Auf der Ecke meines Schreibtischs sitzt eine graue Taube und blinzelt mir freundlich zu. Dann verwandelt sich ihr kleiner, hautenger, silberner Fliegeroverall in weniger als einer Sekunde in etwas wie eine große, aufgefächerte Pfingstrose, aus der auf einem langen Hals ein Kopf herausragt. Die Taube ist in der Lage, jede einzelne Partie ihres Federkleides separat zu bewegen und so faltet sie sich auf, stellt die Federn wie Schuppen hoch und beginnt sich hingebungsvoll zu putzen. Es wirkt beinahe, als habe sie ihren Flügel aus dem Scharnier gehängt, wenn sie immer wieder mit dem Kopf tief eintaucht in die weißen Flügeldaunen und biltzschnell mit ihren spitzen scharfen Schnabel durchs Gefieder fährt. Es knistert wie ein Taftunterrock wenn sie sich die langen schwarzen Federn ihrer Schwingen durch den Schnabel zieht und ihr Festkleid wirkt dadurch noch kostbarer. Sie bläht sich auf zu einer barocken Gewitterwolke, zu einem ganzen Himmel in dem sich alle möglichen Grautöne aufeinander zu bewegen, glänzendes, schweres Graphit, pudriges weiches Dunkelgrau, Grau, das im Licht zu Lila und Grün changiert, ganz helles Grau, das schon fast zu Beige tendiert, zartes Blaugrau und, gut versteckt unter all der Opulenz, lichtes Weiß.
Dann beendet sie ihr Ritual. Sie dehnt ihre Flügel, streckt ein Bein nach hinten und spannt ihre Schwanzfedern wie ein Pfau zu einem Kreis auf. Jetzt hat sie wieder die stomlinienförmige Figur einer kühnen Fliegerin angenommen, die sich von Dachfirsten stürzt und durch die Lüfte jagt, die mit ihren bernsteinfarbenen Augen alles sieht und jedem Hindernis ausweichen kann.
Und dennoch, wenn die Taube nach einem Tag voller Abenteuer die Rolle der barocken Schönheit und der mutigen Flugpionierin hinter sich lässt, Feierabend macht und sich ermattet auf ihrem Lieblingsplatz ein wenig zur Seite fallen lässt, die Flügel erschöpft herunterhängen, so daß am Rücken das weiße Unterhemd heraushängt, ihr Schnabel in den aufgeplusterterten Brustfedern verschwindet und die dicken grauen Lider immer schwerer werden, dann steht fest: Tauben sind nicht nur intelligent, lernfähig, gesellig und schön, sie bestechen auch mit einer absolut exzessiven Niedlichkeit. Man muß die kleinen Urbanisten einfach mal in Ruhe beobachten.