Als gegen Ende der Sechzigerjahre eine euphorisch-exzessive Welle über dem Planeten zusammenschwappte und die metallisch schimmernde Geradlinigkeit von Häusern und Möbeln in Schwung versetzte, da befand sich der Schweizer Architekt Pascal Haüsermann schon lange mitten im Geschehen rund um das Maison Bulle, das Blasenhaus. Haüsermanns Geschichte zeigt, wie eine überbordende Phantasie und der Idealismus, das Wohnen spektakulärer und individualistischer zu gestalten, am Ende an immer rigider werdenden Bauvorschriften und sogar offen zur Schau gestellter Missgunst scheiten sollte.
Bereits
im Jahr 1959 baute Pascal Haüserman in Grilly ein erstes Ferienhaus und
entwickelte dabei sowohl seine Technik, Betonschalen herzustellen, als auch seine
eigenen Ideen zum Thema Autokonstruktion. Haüsermans Methode bestand darin, zunächst
ein korbartiges Gestell aus gebogenen Stahlbändern zu bauen, um in einem
zweiten Schritt die so entstandene Armierung per Hand mit Beton zu umschließen.
Eine Verschalung benötigte man für die geschwungenen Formen somit nicht. Auf
diese Weise gelangen ihm begeh- und bewohnbare Skulpturen, die an Eier,
Ellipsen und Muscheln erinnern und die ein wenig wie überdimensionierte Töpferwaren
aussehen. Nicht zufällig betreibt heute noch Haüsermanns erste Frau Claude
Costy in dem „La Ruine“ genannten Haus, das ebenfalls von dem Architekten
stammt, eine Töpferwerkstatt. Claude Costy war lange Jahre intensiv am Werk
ihres Mannes beteiligt.
Die Gästehäuser in Raon l'Étape |
Die von Haüsermann verfolgte Idee der Autokonstruktion sah vor, dass sich jeder ein Haus nach seinen eigenen Vorstellungen bauen können sollte, ohne dabei immer einen Architekten, Handwerker oder Statiker zu Rate ziehen zu müssen. Er selbst hatte zwar in Genf und London Architektur studiert, setzte sich jedoch im Gegensatz zu den Vertretern eines rechtwinklig-seriellen Looks seiner Epoche zeitlebens für das Handgemachte, nicht ganz so Perfekte, aber um so Phantasievollere ein. Tatsächlich wirken die Kugelhäuser von Haüsermanns Freund und Weggenfährten Antti Lovag immer ein wenig glatter, perfekter und somit auch futuristischer. Die beiden hatten sich im Groupement International d’Architecture Prospective kennen gelernt, dem Haüsermann 1966 beigetreten war.
Raon l’Étape: L’Eau-Vive
Obwohl
man bei futuristischen Betonbauten immer geneigt ist, sie sich an
glamourös-exotischen Orten wie Palm Springs, Rio oder Caracas vorzustellen, so
konzentrierte sich Haüsermann dagegen
bis auf seine Spätphase auf das Landesinnere Frankreichs. Im Gegensatz zu
beispielsweise den an der Côte d’Azur gelegenen Kugelbauten Antti Lovags für
den Modedesigner Pierre Cardin überrascht Haüsermanns Hotelanlage in Raon
l’Étape in der absolut idyllischen, fast schon märchenhaft-waldigen Landschaft
des Département Rhône-Alpes. Im Jahr 1965 hatte Haüsermann den Auftrag
erhalten, für das Städtchen in der Nähe von Baccarat ein kleines Hotel zu
entwerfen. Das Besondere am dortigen Bauplatz ist seine Lage auf einer Insel
zwischen zwei Armen des Flüsschens Plaine. Für diese Insel also entwarf der
Architekt ein dorfartiges Ensemble, bei dem sich mehrere organisch wirkendeEinzelbauten
hinter einem Empfangsgebäude gruppieren. Der zellenartige Einzelbau, der sich
erweitern und verändern lässt, ist ein Grundelement in den Überlegungen Haüsermanns und zeigt sich auch
in den zeitgleich entwickelten Modul-Kunststoff-Blasen, den Domobiles. Fernab
von jeglicher industrieller Fertigung herrscht auf der „L’Eau-Vive“ genannten
Insel jedoch ein detailverliebter Individualismus. Man kann sich lebhaft
vorstellen, wie Haüsermann mit weit ausgebreiteten Armen und großer Geste die
bauchigen Betonkörper modellierte, die sich wie fischartige Fabelwesen auf der
kleinen Insel auszuruhen scheinen. Das Wort „Blob“ kann man ihnen förmlich von
den Lippen ablesen.
Die Gabelung des Flüsschens Plaine in Raon l'Étape, das die Insel L'Éau Vive umschließt |
Nachdem
die Anlage im Lauf der Jahrzehnte mehrmals den Besitzer wechselte und zeitweise
sogar leer stand, wird L’Eau-Vive seit 2007 unter dem Namen „Museumotel“ wieder
als Hotel betrieben. Seit 2014 stehen Haüsermanns Bulles in Raon l’Étape unter
Denkmalschutz. Auf der Internetseite des Museumotels kann man sich zahllose
Fotos aus der Entstehungszeit des Ensembles anschauen bzw. erhält einen
Überblick über Haüsermanns weitere Bauten: Link. Einige davon tragen leider die Bezeichnung „détruit“.
Das Gesamtkonzept für die Stadt Douvaine
Der
große Coup bahnte sich zudem für die Gruppe um Haüsermann und die „architectes
prospectives“ an, als sie 1964 in dem kunstinteressierten Landarzt Jacques
Miguet einen begeisterten Förderer fanden. 1971 wurde Miguet Bürgermeister des französischen
Städtchens Douvaine, das ganz in der Nähe des Genfer Sees liegt. Er beauftragte
die Gruppe mit der Neustrukturierung und Verdichtung des gesamten Stadtzentrums.
Der neue Mittelpunkt Douvaines sollte eine riesige Mehrzweckhalle und ein Marktplatz
mit angeschlossenen Geschäften werden, sowie eine Grundschule. Für die weitere
Zukunft sah man darüber hinaus ein Schwimmbad nach olympischen Maßstäben vor,
einen Aussichtsturm, sogar einen Strand, und alles sollte durch Rampen
miteinander verbunden werden. Um mehr und vor allem flexibleren Wohnraum zu
schaffen, wurden LKW-Ladungen an Domobile-Kugeln nach Douvaine gerollt. 1973
entstand mit Haüsermanns 200 Quadratmeter großen Mehrzweckhalle der damals größte
Saal der gesamten Region und trug schlicht den Namen „La Bulle“. Es folgten
eine Grundschule und ein runder Marktplatz. Die Ideen und Formen, die
Haüsermann bisher in kleineren Bauten wie L’Eau-Vive entwickelt hatte, konnte
er in Douvaine einmal auf ein gesamtes Stadtkonzept anwenden. Beteiligt waren
dabei vor allem der Architekt Jean-Louis Chanéac und Claude Costy.
Im
Bereich der Architektur hört der Spass immer dann auf, wenn es um
Baugenehmigungen geht. Insofern war es ein absolutes Glück, dass ausgerechnet
eine Gruppe, die sich ganz besonders intensiv dem Visionären, Innovativen und
Spektakulären verschrieben hatten, an einen Kunstkenner und Idealisten wie
Jacques Miguet gerieten. Die Bedingungen, in den sie in den Folgejahren an der
Umsetzung ihres Plans arbeiten konnten, müssen gerade hinsichtlich der
Genehmigungen, aber auch in Bezug auf den Glauben ihres Auftraggebers an das
gesamte Projekt, außergewöhnlich gewesen sein.
Das
Ende der Idylle kam so jäh wie plakativ, als Monsieur
Miguets Nachfolger im Amt, dem offensichtlich alles Futuristisch-Geschwungene
zuwider war, eines Tages im Jahr 1977 gleich mehrere Bulldozer in die bereits
weit fortgeschrittene Baustelle schickte. Damit endete die Verwandlung Douvaines
in die Stadt der Zukunft und die Architekten bekamen dort in der Folge
überhaupt nichts mehr genehmigt.
Nach der idealen Stadt - Die Spätphase
In
ganz Frankreich wurden die Gesetzte gegen Ende der ausgelassenen Siebzigerjahre
strenger und nachdem bereits die Ölkrise 1973 den Bau von
Kunststoff-Blasenhäusern sehr erschwert hatte, musste sich Haüserman endgültig
nach einem neuen Beschäftigungsfeld umsehen. In den Achtzigerjahren beteiligte
er sich an einigen konventionelleren Bauprojekten in Genf, versuchte sich im Bereich
der Gastronomie und fuhr in den Neunzigerjahren mit seiner zweiten Frau immer
wieder über Monate hinweg nach Indien. Dort endlich fand er zurück zum Maison
Bulle. Diesmal verwendete er Stahl.
Haüsermann
besuchte in den letzten Jahren noch einige Male seine Hotelanlage in Raon
l’Étape. Auf der Internetseite des jetzigen „Museumotels“ sieht man Fotos von
einem zufrieden dreinblickenden Haüsermann, der sich offensichtlich darüber
freut, dass er nach wie vor mit seinen weitschweifenden Ideen begeistert und
dass sich seine kugeligen Bauten hier in guten Händen befinden.
Pascal
Haüsermann starb am 1. November 2011 in Madras (dem heutigen Chennai) in Südindien.
Antti Lovag starb am 27. September 2014
an der Côte d’Azur. Claude Costy ist
bis heute als Töpferin aktiv und lebt in dem bereits erwähnten Maison Bulle
namens „La Ruine“. Und in Douvaine bekennt man sich mittlerweile zu den großen
Ideen der Siebzigerjahre und ist stolz auf das halbfertige Ensemble, dessen Bau
so jäh unterbrochen wurde. Haüsermanns Mehrzweckhalle bekam jedoch, bevor sie
ebenfalls als Denkmal eingetragen wurde, ein neues, verzinktes Dach aufgesetzt. An einen Blob oder ein Bulle denkt man jetzt
nur noch auf den zweiten oder dritten Blick.
Der Bruder als Initiator der Fahrt nach Raon l'Étape. Seit dieser Reise nach LeHavre (Link) und Raon l'Étape sind mein Bruder und ich fest davon überzeugt, dass Frankreich das eigentliche Land der Zukunft ist. Dass wir unsere regenreiche Reise ausgerechtnet auf einer Insel namens L'Eau Vive beschließen sollten, war mehr als bildhaft. Dazu passten dann auch unsere vollgesogenen Regenjacken. |
Die Schwester auf einer Verkehrsinsel am Eingang von Raon l'Étape. Die Fotos stammen aus dem September 2013. |