Gottfried Böhm möchte nicht über seine Werke sprechen. Das liest man zumindest in Veronika Darius’ Schrift über Böhms Bauten aus den Sechzigerjahren, erschienen im Beton-Verlag, Düsseldorf 1988. Betrachtet man, oder eher: erlebt man die Gebäude Böhms direkt vor Ort, dann erübrigen sich zunächst tatsächlich alle möglichen Fragen zu Beweggründen und Motiven des Architekten. Stattdessen setzt unmittelbar ein Gefühl des Überwältigtseins ein, zusammen mit dem dringenden Bedürfnis, sich ganz in den Sog dieser bis ins letzte Detail plastisch durchformten Welten zu begeben und komplett darin einzutauchen. Das Phantastische ist Gottfried Böhms Metier, das Großartige, Spektakuläre, Geheimnisvolle, wobei es beinahe zur Nebensache wird, ob es sich nun um eine Kirche, ein Verwaltungsgebäude oder um ein Kinderheim handelt.
Den gesamten letzten Sommer über hatte ich immer wieder das Glück, mich mit diversen Bauten Böhms im Rheinland beschäftigen zu können und bin dabei auf typische Muster in seiner Vorgehensweise gestoßen. Es sind ähnliche Motive die er immer wieder variiert und auch die Materialien wieder- holen sich. Es ist faszinierend zu sehen, wie es Gottfried Böhm gelungen ist, über Jahrzehnte hinweg im gesamten Rheinland öffentliche Gebäude zu plazieren, die durch den Einsatz immer wieder auftauchender Elemente, Materialien und ganzer Bauteile deutlich als Werke Böhms zu erkennen sind und immer den Aspekt des Phantas- tischen transportieren. Bei Veronika Darius liest man sogar, dass Böhm seinen Entwurf für die Wallfahrtskirche „Maria, Königin des Friedens“ in Velbert Neviges überarbeiten musste, nachdem man ihm vorgeworfen hatte, mit dem Gebäude ein Paralleluniversum schaffen zu wollen. Gerade diese Eigenschaft der Gebäude Böhms, mit ihrem Anspruch an das Gesamtkunstwerk den Besucher in eine perfekt durchgestaltete Welt zu führen, ist typisch für sein Werk und findet sich bis heute in zahllosen weiteren Entwürfen.
Die Wallfahrtskirche „Maria, Königin des Friedens“ in Velbert Neviges, die im Jahr 1968 geweiht wurde, ist wohl Böhms bekanntestes Werk. Neviges selbst ist ein hübscher kleiner Ort mit alten Fachwerkhäusern und einer Barockkirche. Nähert man sich Böhms Wallfahrtskirche, so sieht man zunächst immer wieder deren merkwürdig zerklüftetes riesiges Betondach wie ein Gebirge über den schwarzen Balken und weißen Flächen der heimelig wirkenden alten Häusern des Örtchens aufragen. Schließlich gelangt man an den Fuß des sogenannten Pilgerweges, der sich, flankiert von einem langgezogenen zweistöckigen Gebäude mit zahllosen runden Erkern auf der linken und der mächtigen Wand einer betonierten Böschung auf der rechten Seite, unter Platanen hindurch bis zum Eingang des riesigen Betonzelts erstreckt. Böhm inszeniert den Aufgang der Pilgerscharen zur Kirche wie eine Prozession und schafft eine Atmosphäre, die den Besucher schrittweise auf das Unglaubliche vorbereitet, das ihn im Inneren erwarten soll.
Haben sich die Augen des Pilgers erst einmal an die dortigen Lichtverhältnisse gewöhnt, wird er der kristallinen Formen der Betondecke gewahr, wo sich im Dunkel des beinahe ganz von der Außenwelt abgeschlossenen Raumes Rhomben und Rauten in riesiger Höhe aneinander gruppieren. Licht fällt in den Raum nur durch die von Gottfried Böhm entworfenen Fenster, die das Thema der der Rose variieren und die geheimnisvolle andächtige Stimmung noch verstärken. Spektakulär ist es zudem, daß man über diverse steile Treppen zu verschiedenen Emporen gelangt, die hoch über allem schweben. Durch das Erklettern des Raumes wird das Erleben der Architektur natürlich noch intensiviert, man entdeckt zahllose Details wie Durchbrüche in den Wänden und Pfeilern und darüber hinaus begreift man von den Emporen aus auch Böhms Idee, den Altarraum als Marktplatz zu gestalten. Innen und außen stehen somit in direkter Verbindung.
Anzumerken ist an dieser Stelle, daß die gesamte Oberfläche des Sichtbetons im Innern der Wallfahrtskirche noch im Urzustand ist und bisher weder abgeschliffen noch überstrichen wurde.
Die Fahrt nach Velbert Neviges war, wie schon gesagt, erst der erste Ausflug von vielen zu den Gebäuden Gottfried Böhms. Wie sich die charakteristischen Elemente in Böhms begehbaren Großskulpturen wiederholen und variiert werden, das beschreibe ich in den noch folgenden Berichten.