Anlässlich ihrer Ausstellung "Gleich" in der Galerie EX14 in Dresden hat die französische Künstlerin Charlotte Perrin ihren bereits zweiten Katalog veröffentlicht. Ich freue mich, dafür einen Einleitungstext über das künstlerische Gesamtkonzept Charlotte Parrins geschrieben zu haben, denn ihr Werk steht sowohl für Minimalismus als auch Technikbegeisterung und hintergründige Geschichten:
So, wie die Sonne über die Stadt zieht und bewirkt, dass die Schatten der Häuser im Laufe des Tages ihre Form verändern, so verändern sich in der Beaobachtung von Charlotte Perrin die Formen der Gebäude selbst während die Künstlerin durch die Straßen geht. Flächen wandern aufeinander zu, berühren und überschneiden sich, sie verdecken einander und entfernen sich wieder. Winkel und Abstände ändern sich, Linien wachsen zusammen und trennen sich. Alles ist in Bewegung. Charlotte Perrin hat sich ein gesamtes System erschaffen, in dem Bewegung, Kontinuität und Variation eine Rolle spielen, und gerade das Betrachten aus der eigenen Bewegung heraus kann als eines der Hauptmotive ihrer künstlerischen Herangehensweise betrachtet werden.
In ihrer mehrteiligen Papierarbeit mit dem Titel „Bordures“ leitet die Künstlerin Formen aus den Wanderungen durch den urbanen Raum ab, sie schneidet Elemente aus und erhält dadurch gleichzeitig Positiv- und Negativformen, die beide Teile ihrer Collagen werden. So entwickelt sich aus der einen Form die nächste und aus einer Collage die folgende. Die Bewegung des Laufens und Sehens setzt sich im Schneiden und Arrangieren fort.
Fasziniert von den Errungenschaften des Industriezeitalters verbindet Charlotte Perrin das Organische, Intuitive mit ganz rationalen Überlegungen und verleiht Ihrer Kunst damit immer auch etwas Modulhaftes. So folgt sie beim Erstellen ihrer Collagen, die ihren Ursprung zunächst in weichen Bewegungsabläufen haben, einem strengen Protokoll, das sie sich selbst vorschreibt. Beispielsweise beschränkt sie sich auf die Verwendung von nur einer bestimmten Papiersorte oder auch auf die Anzahl der Schnitte die sie setzt, wie in der Serie der „Parallélépipèdes“ aus dem Jahr 2014. Dort erzeugt sie durch eine Variation von exakt sieben Schnitten pro Blatt die Illusion von kubischen Räumen, die sich alle ähneln, sich aber niemals gleichen. In der Serie „Bildebene/11 Ankerpunkte/10 Linien“ aus dem Jahr 2018 verrät der Titel zugleich das Reglement, das den Arbeiten zugrunde liegt. Die Blätter der sechzehnteiligen Reihe von Collagen sind abwechselnd in schwarzer Tusche und silbernem Autolack gehalten, nichts lenkt ab von der Präzision der Schnitte und alles verweist auf den großen, übergeordneten Zusammenhang mit dem Industriellen, dem seriell Vorfabrizierten und dem Technischen.
Charlotte Perrin stammt aus Marseille. Sofort denkt man an das intensive Licht und die scharfen Schatten die die Sonne erzeugt, an die klirrendenden Klänge des Hafens und das tiefe Dröhnen von Motoren, die weit unter der Wasseroberfläche arbeiten. Das Maschinenhafte, Metallene ist tatsächlich ein wiederkehrendes Leitmotiv innerhalb ihres Oeuvres, allerdings nicht alleine aufgrund ihrer Herkunft aus der großen Hafenstadt im Süden Frankreichs. Die Künstlerin forciert die Begegnung mit dem Maschinellen, beispielsweise durch ihren mehrtägigen Aufenthalt als Artist in Residence auf einer Fähre, auf der sie im Mai 2017 über den Ärmelkanal zwischen Dieppe und Newhaven hin- und herfuhr.
Tagelang unterwegs in dem metallenen, sich bewegenden Raum verfolgte Charlotte Perrin begeistert die perfekt durchorganisierten Arbeitsabläufe an Bord, die präzisen Manöver und die dafür notwendige klare Kommunikation, die technischen Vorgänge und auch Details wie die Anordnung der Wekzeuge. An einer stählernen Wand im Bauch des Schiffes hatte jede Säge, Schere und Zange, jede Fräse und jeder Bohrer, jedes einzelne Werkzeug seinen ganz eigenen, speziellen Platz, geordnet nach Funktionen und möglichen Schäden am Schiff, der Gegenstand selbst und seine Gegenform als Markierung auf der riesigen Fläche. Im Rahmen ihres Aufenthalts zwischen Dieppe und Newhaven entstand schließlich ein Künstlerbuch in Form einer Zeitung, die Fotografien und ein Fachlexikon enthält. Auf diese Weise wurde Perrins Arbeit den Passagieren weiterhin zugänglich gemacht, auch nachdem sie das Schiff längst verlassen hatte.
In ihrer Ausstellung „eben“ in der „Hebebühne“ in Wuppertal, einer zum Kunstraum umgewidmeten ehemaligen Autowerkstatt, spielte Perrin erneut mit den Ideen und Materialien des Industriezeitalters. Aus den Papiercollagen und unter den Eindrücken ihres Aufenthalts auf der Fähre hatte sich die Vorstellung gestanzter Metallformen entwickelt, deren Umrisse sie hier zunächst schablonenhaft an die Wand zeichnete. Das Blecherne, Modulhafte, das Ideal eines jeden Bausatz-Erfinders, adaptierte Perrin ebenfalls in diesem Zusammenhang und verwandelte ein verzinktes Ikea-Regal in eine elegante Wandarbeit, die ganz von der Schönheit ihrer Proportionen und Oberflächen lebt. Wie auf einer Magnettafel hafteten dort Fotografien von barock geknüllten Papierobjekten. Und dann plötzlich, ebenfalls auf Fotografien, eine beinahe menschliche Gestalt in all der Abstraktion: die freundlich dreinblickende Papierverarbeitungsmaschine, die für die geknüllten Objekte verantwortlich war. Auf den Fotos faltet der Roboter mit ein paar mechanischen Handgriffen aus einem zweidimensionalen Papierstreifen eine endlose Plastik, sie schenkt dem Papierband Volumen und Lebendigkeit.
In der Installation „Laufband“ kommen schließlich alle Elemente zusammen. In Anlehnung an das von Perrin in eine Wandarbeit transformierte Regal hat sie eine Skulptur geschaffen, die aus einem hölzernen Stecksystem besteht und genau so leicht zu montieren und zu demontieren ist, wie das Ursprungsregal. Der einfachen Aufbau des Objekts ist in seinen Bewegungsabläufen von Perrin selbst als Performance angelegt. Zwischen den filigranen Stäben verläuft das namensgebende Laufband, auf das der Papierroboter vielleicht schon längst ein Auge geworfen hat.
Charlotte Perrin in ihrem Atelier in Wuppertal |
Durch das künstlerische Gesamtkonzept Charlotte Perrins zieht sich das Wechselspiel zwischen dem Menschlichen und dem Maschinellen genau so wie das Verhältnis zwischen leichtem Papier und schwerem Metall. Die Art und Weise, wie sie im Normierten, schon sprichwörtlich am Band hergestellten, etwas Poetisches, Individualistisches entdeckt, zeigt sich vielleicht am subtilsten in einer beinahe schon wissenschaftlichen Langzeitstudie, in der sie sich der Frage widmet, wie man Raufasertapete am idealsten abbildet. Die Künstlerin besuchte für diese Serie über Monate hinweg mit dem immer gleichen Stück Raufasertapete verschiedene Copyshops in Berlin, Dresden und Lemgo und erkannte auf diese Weise, wie die Raufasertapete erst in der Abbildung in ihrer vollen Schönheit und der Mannigfaltigkeit ihrer Details sichtbar wird. Durch verschiedene Druckverfahren und vor allem durch den individuellen Erhaltungszustand der Maschinen und den damit verbundenen Ungenauigkeiten und Abweichungen entstand wieder eine Serie von Papierarbeiten, deren einzelne Elemente sich alle ähneln, aber niemals gleichen.
Julia Zinnbauer, April 2018