Mein Text "Terra contrata" erscheint im Magazin zur Ausstellung
"Country" lautet der Titel der Ausstellung, die die kölner Künstlerin Alice Musiol (Link) für die Räume der Abtei Liesborn bei Lippstadt konzipiert hat und die am vergangenen Sonntag eröffnet wurde. Um das Projekt "Country" wortwörtlich über die Mauern der Abtei hinaus ins weite Land hinein weiterzuführen, hat sie diverse Künstler nach einem Bild- bzw. Textbeitrag gefragt und zu Ihrer Ausstellung ein Magazin veröffentlicht. Ich freue mich, dort mit meinem Text "Terra contrata" vertreten zu sein, zusammen mit Arbeiten von Chris Dreier, Bert Didillon, Pablo de Lillo, Julia Keppeler und anderen. Das Magazin liegt in der Ausstellung aus, die noch bis zum 05.02.2017 zu sehen ist, sowie hier: Link. Weitere Informationen dazu gibt es auf der Seite des Museums: Link. Zeitgleich zu Alice Musiols Ausstellung wurde im Museum Abtei Liesborn eine Ausstellung mit Werken des Innenarchitekten und Designers Martin von Wnorowski eröffnet, der an diesem Tag einhundert Jahre alt geworden wäre (Link).
Terra contrata
Das Wort „country“, das sowohl „Land“ bedeutet als auch häufig mit „Landschaft“ in Verbindung gebracht wird, fand seinen Weg in die englische Sprache ganz bildhaft im Rahmen einer Landnahme. Im Jahr 1066 machte sich der normannische Herzog Williame II. zusammen mit seinen Kriegern von Nordfrankreich aus auf den Weg über den Ärmelkanal, um das gesamte englische Königshaus und den Klerus zu beseitigen und durch eigene Landsleute zu ersetzen. Auf diese Weise fand die Sprache der Eroberer ihren Eingang in das Englische, vor allem aber in den Bereichen des Höfischen, der Verwaltung und des Rechts. Herzog Williame sprach mit dem Normannischen eine Varietät des Altfranzösischen, einer romanischen Sprache, die sich in den folgenden Jahrhunderten mit dem Angelsächsischen vermischen und fortan als Anglonormannisch bezeichnet werden sollte. Das altfranzösische „contree“, das Williame verwendete und das dem Wort „country“ zugrunde liegt, leitet sich vom vulgärlateinischen „(terra) contrata“ ab. „Contrata“, so das „Concise Oxford Dictionary of English Etymology“, wurde v.a. in Verbindung mit dem Wort „terra“ verwendet, also „terra contrata“, „das Land auf der gegenüberliegenden Seite“ bzw. „das Land, das sich vor jemandem ausbreitet“.
Alice Musiol: Ausstellungsansicht "Country" |
"Country" lautet der Titel der Ausstellung, die die kölner Künstlerin Alice Musiol (Link) für die Räume der Abtei Liesborn bei Lippstadt konzipiert hat und die am vergangenen Sonntag eröffnet wurde. Um das Projekt "Country" wortwörtlich über die Mauern der Abtei hinaus ins weite Land hinein weiterzuführen, hat sie diverse Künstler nach einem Bild- bzw. Textbeitrag gefragt und zu Ihrer Ausstellung ein Magazin veröffentlicht. Ich freue mich, dort mit meinem Text "Terra contrata" vertreten zu sein, zusammen mit Arbeiten von Chris Dreier, Bert Didillon, Pablo de Lillo, Julia Keppeler und anderen. Das Magazin liegt in der Ausstellung aus, die noch bis zum 05.02.2017 zu sehen ist, sowie hier: Link. Weitere Informationen dazu gibt es auf der Seite des Museums: Link. Zeitgleich zu Alice Musiols Ausstellung wurde im Museum Abtei Liesborn eine Ausstellung mit Werken des Innenarchitekten und Designers Martin von Wnorowski eröffnet, der an diesem Tag einhundert Jahre alt geworden wäre (Link).
Terra contrata
Das Wort „country“, das sowohl „Land“ bedeutet als auch häufig mit „Landschaft“ in Verbindung gebracht wird, fand seinen Weg in die englische Sprache ganz bildhaft im Rahmen einer Landnahme. Im Jahr 1066 machte sich der normannische Herzog Williame II. zusammen mit seinen Kriegern von Nordfrankreich aus auf den Weg über den Ärmelkanal, um das gesamte englische Königshaus und den Klerus zu beseitigen und durch eigene Landsleute zu ersetzen. Auf diese Weise fand die Sprache der Eroberer ihren Eingang in das Englische, vor allem aber in den Bereichen des Höfischen, der Verwaltung und des Rechts. Herzog Williame sprach mit dem Normannischen eine Varietät des Altfranzösischen, einer romanischen Sprache, die sich in den folgenden Jahrhunderten mit dem Angelsächsischen vermischen und fortan als Anglonormannisch bezeichnet werden sollte. Das altfranzösische „contree“, das Williame verwendete und das dem Wort „country“ zugrunde liegt, leitet sich vom vulgärlateinischen „(terra) contrata“ ab. „Contrata“, so das „Concise Oxford Dictionary of English Etymology“, wurde v.a. in Verbindung mit dem Wort „terra“ verwendet, also „terra contrata“, „das Land auf der gegenüberliegenden Seite“ bzw. „das Land, das sich vor jemandem ausbreitet“.
"Country" - das Magazin zur gleichnamigen Ausstellung, aufgeschlagen eine Fotografie von Chris Dreier und mein Text "Terra contrata" |
Man kann sich lebhaft vorstellen, wie Herzog Williame an der nordfranzösischen Küste stand, im zwischen grellsonnig und düstergrau wechselnden Licht der Normandie, auf das Meer hinausschaute und minutiös die Eroberung des Landes auf der anderen Seite plante. Mit dem altfranzösischen Wort „contree“ ist in diesem Fall also ganz konkret England gemeint, das Land, das sich vor Williame ausbreitete, als er an einem Tag im September 1066 vom nordfranzösischen Dives sur Mer mit insgesamt dreihundert Booten und 7000 Soldaten ins südenglische Pevensy übersetzte. Es folgte die Battle of Hastings und bereits an Weihnachten 1066 ließ sich Williame in London zum König krönen. Die gesamte Geschichte von William the Conquerer, wie er seitdem genannt wird, erzählt der Teppich von Bayeux in zahllosen gestickten Bildern.
Das Land, in das man sich sehnt, mag genauso identitätsstiftend sein wie das Land, aus dem man stammt. Insofern ist es interessant, dass mit „country“ nicht unbedingt das eigene, sondern auch das andere, fremde, gegenüberliegende Land gemeint ist, das es noch zu erkunden, im schlimmsten Fall zu erobern gilt.
Ich
selbst bin in einer Ebene aufgewachsen, zwischen zwei Horizonten, die
unterschiedlicher nicht hätten sein können. Auf beiden Seiten lag
mir eine ganz besondere Landschaft gegenüber. Im Westen der Pfälzer
Wald in all seiner tiefgrünen Schönheit, mit seinen Burgen und
dramatischen, roten Sandsteinfelsen, davor hellgrüne Weinberge so
weit das Auge reicht. Im Osten dagegen die BASF, die riesige
Chemiefabrik, für die im letzten Jahrhundert ein gesamtes
Ballungsgebiet aus Wohnorten, Autobahnabfahrten und Gewerbeflächen
angelegt wurde.
Und
ich saß dazwischen, links die Romantik, rechts die Moderne, auf
jeder Seite eine terra contrata und ich im ereignislosen
Zwischenraum.
Man
kann sagen, dass wir in meiner Heimatstadt von beidem etwas hatten –
von der schönen Landschaft genauso wie vom städtischen Flair einer
Industriemetropole. Oder man sieht es umgekehrt: wir hatten von
beidem nichts. Das ist Auslegungssache. 48 000 Einwohner können ja
nicht irren und ich habe diverse ehemalige Schulkameradinnen, die
begeistert dort wohnen geblieben sind. Das typische braun-weiße
Schild, das überall in Deutschland an den Autobahnen steht und auf
Sehenswürdigkeiten der Region hinweist, trägt bei uns die
Aufschrift „Gemüsegarten Deutschlands“. In meiner Heimatstadt
wird allerdings auch die KSB-Pumpe, der Kronkorken und der
Scout-Schulranzen hergestellt und bis vor einigen Jahren produzierte
man dort sogar den legendären Pegulan-Fußboden. Diese Mischung aus
Gemüsegarten und Industriegebiet war mir als Jugendlicher
einfach zu viel Realismus und ich bin ins innere Exil gegangen. Ich
träumte mich nach England und nach Italien. Und das, obwohl die
Pfalz doch die Toskana Deutschlands ist! Auf den ersten Blick
vielleicht nicht gerade die Vorderpfalz.
In
der Mitte des 19. Jahrhunderts ließ sich König Ludwig I. von Bayern
im südpfälzischen Edenkoben als Sommersitz ein klassizistisches
Schloss bauen, die Villa Ludwigshöhe. Erst kurz zuvor hatte er in
seiner Begeisterung für die Antike, für Italien und die Kunst im
allgemeinen in München die Feldherrnhalle nach dem Vorbild der
Loggia die Lanzi in Florenz in Auftrag gegeben. Zeitgleich entstand
in der Gegend von Regensburg auf seinen Wunsch hin die Walhalla, in
Anlehnung an den griechischen Parthenon. Die Pfalz gehörte damals zu
Bayern und so lag es für Ludwig nahe, sein geistiges Italien mit den
perfekten Bedingungen vor Ort zu verbinden. Mit geschultem Blick fand
er an einem Hang des Pfälzer Waldes den idealen Ort für seine
Ferienvilla, zu deren Entwurf schließlich ein Atrium, pompejanische
Wandmalereien und ein Mosaikfußboden nach römischem Vorbild gehören
sollten.
Man
kann sich lebhaft vorstellen, wie Ludwig von seiner mit dorischen
Säulen geschmückten Veranda aus auf die Landschaft der Rheinebene
hinausschaute, die sich vor ihm in tausenden von Farbschattierungen
bis in die Ferne ausbreitete und man den Horizont schon nicht mehr
von der Weite des Himmels unterscheiden konnte. Anders als Williame,
der Jahrhunderte zuvor England mit Gewalt erobert hatte, machte sich
Ludwig nun die Pfalz zueigen: er brachte den Klassizismus in die
Region. Heute beherrbergt die Villa Ludwigshöhe weit über hundert
Werke des Impressionisten Max Slevogt, der wie niemand sonst das
Licht, die Farben und die Atmosphäre der Pfalz einfangen konnte,
sowie den unglaublichen, phantastischen
Himmel.
Ich
selbst bin nach meiner Jugend in der Vorderpfalz schließlich nach
Norden gezogen, den Rhein hinauf nach Düsseldorf. Dort, in einem
Ballungsgebiet, das noch viel größer ist als der
Rhein-Neckar-Raum, gibt es alles, was ich zu Hause vermisst habe:
wirklich große Großstädte,
alle Arten von Kunst,
Glamour,
eine unglaublich vielseitige Landschaft, das Ruhrgebiet mit seinen
backsteinernen Fabrikhallen, mit Häfen und Autobahnbrücken, es
gibt einsame Seen und waldige Berge, die A40 und die A46 und auch der
Rhein ist da, als alter Vertrauter.
Alles findet gleichzeitig statt und alles ist etwas größer und
spektakulärer als in meiner Heimat. Nur eines gibt es nicht:
das unglaublich schöne, warme intensive Licht der Pfalz, das jeden
noch so banalen Parkplatz, jeden Garagenhof mit purem Gold und
verschwenderischer Hitze überzieht und erst recht das Schöne noch
schöner macht. Und so wird die Pfalz, auch die Vorderpfalz, doch
wieder zu dem, was sie immer war: ein Sehnsuchtsort - viel mehr die
romanische „terra contrata“ als das germanische „Land“, das
schlicht Boden und Grund bedeutet bzw. ein Gebiet zwischen
politischen Grenzen. Und vielleicht verdanke ich meiner Zeit in der
Vorderpfalz ja auch meine Phantasie, mit deren Hilfe ich überall
dort hinreisen kann, wohin ich will.
Museum Abtei Liesborn |
Entwürfe von Martin von Wnorowski |