Mehrfach
habe ich auf dieser Seite bereits über künstlich angelegte Stadtteile
berichtet, so genannte Satelliten- oder Trabantenstädte. Von der Gropiusstadt
in Berlin war die Rede (Link), von Garath (Link) und dem Bürogbiet Am Seestern
(Link), die beide zu Düsseldorf gehören, und auch die Neue Stadt Wulfen (Link)
wurde hier schon einige Male thematisiert. In den
Beschreibungen schwingt dabei immer eine gewisse Sehnsucht nach Oscar Niemeyers Brasilia und LeCorbusiers
Chandigharh mit. Alleine
der Ausdruck „Satellitenstadt“ lässt an den Weltraum denken, an Zukunft und
Fortschritt, an die Möglichkeit, an einem anderen, weit entfernten Ort ein
neues, besseres Leben zu beginnen, eine neue Zivilisation zu gründen. Die Idee
der Satellitenstadt passt perfekt in die Aufbruchstimmung und die
Technikbegeisterung nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Konzept künstlich
angelegter Stadtteile jedoch ist viel älter und stammt noch aus der Zeit, als sich
LeCorbusier Gedanken über seine Ville Radieuse und den Plan Voisin machte und
schließlich mit seinen Mitstreitern auf einer Reise nach Griechenland die
Charta von Athen formulierte.
In
weiter Ferne liegen die neu angelegten Stadtteile tatsächlich, vor allem in
einer großen Entfernung zum Zentrum der eigentlichen Stadt. Dass sich die
Bewohner der neuen Wohngebiete vom Rest der Stadt abgeschnitten fühlten, darin
lag von Anfang an eines der Hauptprobleme des gesamten Konzepts und wurde stark
von dessen Gegnern kritisiert. Gerade Trabantenstädte, also große Wohnviertel,
die im Gegensatz zu eigenständigen Satellitenstädten mangels Infrastruktur
nicht als eigene Städte funktionierten, sondern tatsächlich nur dem Aufenthalt
nach Feierabend dienen, warf man Leblosigkeit und Gleichförmigkeit vor. Und
trotzdem: ist es nicht tausendmal aufregender, in einem Vorort von Berlin zu
wohnen und von einer Wohnung im 23. Stock einen Ausblick auf futuristische
Architektur und in die weite Landschaft zu haben, als in einer deutschen
Kleinstadt aufzuwachsen, in der nach 18 Uhr auch kein Mensch mehr auf der
Straße ist man Städte wie Berlin nur aus dem Fernsehen kennt?
Chen Kuen Lee am Senftenberger Ring, einer Ringstraße nach der Idee Georg Heinrichs', die einen Durchmesser von 500 Metern hat |
Der Plan hinter dem Märkischen Viertel
Mit
dem Märkische Viertel entstand in West Berlin die erste große Neubausiedlung
nach dem Zweiten Weltkrieg, ganz im Norden der Stadt und noch vor der Gropiusstadt. Als
die Architekten und Stadtplaner um Georg Heinrichs, Hans Christian Müller und
Werner Düttman im Jahr 1962 ihr städtebauliches Konzept für das Märkische
Viertel vorlegten, wohnte man im Stadtteil Reinickendorf noch in
Notunterkünften und unter problematischen hygienischen Verhältnissen. Zudem
musste nach den Zerstörungen durch den Krieg neuer Wohnraum in großen Mengen geschaffen
werden.
Der
Plan war es, trotz der Gesamtmenge von 17 000 Wohneinheiten für alle einen möglichst
individuellen Wohnraum zu schaffen. Dazu wurden mehr als fünfunddreißig
Architekten aus dem In- und Ausland engagiert und auch die Stadtplaner
Heinrichs (Link), Müller und Düttmann selbst entwarfen diverse Gebäude. Mit dabei
waren unter anderem die Architekten Ludwig Leo, Oswald Maria Ungers, und der ehemalige Scharounschüler und
-mitarbeiter Chen Kuen Lee. Um eine Balance zwischen Individualität und
Harmonie zu schaffen, entwickelte der Künstler Utz Kampmann ein übergreifendes
Farbkonzept (1966 - 68). Viel Grün wurde angepflanzt, um die sumpfige Gegend zu
entwässern wurden zwei große Seen angelegt und nördlich des Viertels baute man
ein eigenes Fernheizwerk.
Futuristische Ideen zur Infrastruktur
des Märkischen Viertels
Dass
sich auch eine im Ganzen geplante und in wenigen Jahren (1963 bis 74) angelegte
Retortensiedlung erst einmal entwickeln musste, ist offensichtlich. Die zunächst noch kargen,
erst kürzlich angelegten Grünflächen in Verbindung mit fehlenden Kneipen,
Restaurants, Schulen und Kindergärten, also das Fehlen von gewachsenen
Strukturen, die das Leben in der Stadt interessant machen, wurden harsch
kritisiert. Allerdings wurde auch auf die Kritik reagiert, es entstanden neben
dem zentralen Marktplatz mit Einkaufszentrum und Hallenbad diverse weitere
kleinere Zentren, Schulen, Spielplätze und Kirchen. Die weite Entfernung zum
Stadtzentrum Berlins blieb natürlich. Ganz am Rand des Viertels erreicht man
eine S-Bahn, davon abgesehen werden Busse eingesetzt. Die ursprünglich geplante
U-Bahnlinie wurde nie umgesetzt. Bei sonnigem Frühlingswetter benötigt man mit
dem Fahrrad etwa eine Stunde vom Alexanderplatz bis ins Märkische Viertel, wenn
man gemütlich fährt. Im berüchtigten Berliner Winter sieht das vermutlich
anders aus. In den Siebzigehrjahren überlegte man immerhin, für das moderne
Märkische Viertel auf Schienen laufende Cabinentaxis einzusetzen, was dem
futuristischen Look der Gebäude ein weiteres, zukunftsweisendes Element
verliehen hätte. Anders als bei einer Schwebebahn oder einem Monorail-Zug kann
der Passagier eines fahrerlosen Cabinentaxis sein Ziel individuell wählen und
wird in einer computergesteuerten Kapsel vor Ort gebracht. Die Entwicklung des
Cabinentaxis wurde im Jahr 1981 eingestellt.
Die heutige Situation
Dass
das Märkische Viertel im Ganzen funktioniert, zeigt sich darin, dass viele
Nachkommen der Erstbewohner der Siedlung ebenfalls ihren Wohnsitz dort wählen.
Gezielt wirbt man zudem für ein positives Image des Viertels. Das Farbkonzept
von Utz Kampmann wird jedoch nach und nach zerstört. Seit 2008 betreibt man die energetische
Sanierung des Viertels und klebt quadratkilometerweise Dämmplatten auf die
Fassaden. Wie das im Detail aussieht, weiß die Deutsche Bauzeitung (Link).
Rechts im Bild: Wärmedämmung in ihrer schaurigsten Form. |
Das Seggeluchbecken, einer der beiden eigens angelegten Entwässerungs-Seen |