Das Städtchen Riva del Garda habe ich zum ersten Mal vom Wasser aus gesehen. Tagelang waren wir mit dem Segelboot über den Gardasee gerauscht, hin und her, immer diagonal zum Wind, bis hin zu der Felsnase, die bei Limone in den See ragt, und wieder zurück, hin und her und hin und her, weit unterhalb der steil über dem glitzernden Wasser aufragenden, mattgrauen Felsmassen. Dann blieb der Mittagswind, die Ora, eines Tages aus. Wir fuhren immer langsamer und die Tage des exzessiven Durch-die-Gischt-Schießens waren zunächst einmal vorbei.
Vom Boot aus ist mir beim Segeln immer ein mächtiges gelbes Gebäude aufgefallen, dessen massive Form die viel filigraner wirkenden Häuser Rivas weit überrragte. Es erinnerte mich an die großen alten Elektrizitätswerke, die ich aus dem Ruhrgebiet kannte, wie beispielsweise das Köppchenwerk am Hengsteysee (Link). Wir lenkten unseren Flying Dutchman in den Hafen von Riva, wo schlanke Segelboote zwischen eleganter Dreißigerjahresarchitektur auf dem klaren Wasser wippten. Ganz vorne, an der Einfahrt des kleinen Hafens, grüßte ein schmaler, schlanker Art-Déco-Sprungturm auf den See hinaus. Alles schien filigran, flirrend, hell und mondän. Eine Mischung aus "Zauberberg" und "Nur die Sonne war Zeuge".
Eines Abends liefen wir dann einmal zu Fuß nach Riva und mussten feststellen, dass es hinter der Uferbebauung weit weniger mondän zuging. Wie in vielen anderen italienischen Städten auch strömten die Toursten durch die Abendwärme und je weiter man auf den zentralen Platz mit seinem Uhrenturm, dem Torre Apponale von 1220 zukam, desto lauter und voller wurde es. Lief man dann aber weiter, stand man schließlich vor der langgestreckten Fassade des Wasserkraftwerks, das parallel zur Küstenstraße gebaut war und im warmen Licht der Straßenlampen golden schimmernd auf die dunkle Nacht über dem See hinausschaute.
Isolatoren als Fassadenschmuck |
In der Mitte des Gebäudes schmückt ein Marmorrelief die Außenwand, das den Genius des Wassers darstellt, der mit schwermütigem Blick ein Bündel Blitze über sein gelocktes Haupt hält, begleitet von einem Sinnspruch Gabriele d'Annunzios: Hoc opus hic labor est et aedibus in mediis numen aquarum (etwa: Dieses Werk ist ein Stück Arbeit und inmitten der Räume der Geist des Wassers). Weiterer Hausschmuck: Lampen in Form von Isolatoren. Tatsächlich hatte man den italienischen Schriftsteller eigens beauftragt, einen Vers zum Thema Wasserkraftwerk zu dichten und vor meinem gesitigen Auge manifestierten sich unmittelbar die opulentesten Bilder. Gabriele d'Annunzio wie er, gefangen zwischen Symbolismus, Jugendstil, Futurismus und Weltherrschaftsanspruch, in einer Barke über den See gerudert wird, kühn das Profil in der Wind gerichtet, begleitet von einigen bekränzten Musen und kernigen Ruderern mit entblößter Brust, um dann in einem Festakt vom Leiter der Vereinigten Italienischen Elektrizitätswerke am Ufer empfangen zu werden und dem modernen Kraftwerk den Genius der Hydroelektrizität einzuhauchen. In Wirklichkeit ist der passionierte Technikfan damals vermutlich mit einem modernen Automobil von seinem in der Nähe gelegenen Palast aus nach Riva gefahren. Dekorativ war der Auftritt wahrscheinlich dennoch nicht weniger.
Die Centrale Idroelettrica del Ponale mit ihrem Genius |
Die Gebrüder Maroni als Stadtplaner in Riva del Garda
Im Nachhinein fand ich Folgendes heraus: Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte Riva del Garda zum Königreich Österreich-Ungarn und fiel dann an Italien. Um den Ort auch architektonisch und städtebaulich in ein neues Zeitalter zu führen, engagierte man damals die Brüder Giancarlo und Ruggero Maroni (Link), die den Wiederaufbau Rivas leiteten. Neben einigen Villen, Straßen und Plätzen stammen von dem Architekten und dem Ingenieur auch der elegante Art-Déco-Segelclub mit dem filigranen Sprungturm, der auch als Leuchtturm dient (Link), und das Wasserkraftwerk am Fuße des Ponale Gebirges - La Centrale Idroelettrica del Ponale (1924-29). Einen kurzen Film über das Wirken Giancarlo Maronis in Riva del Garda kann man sich hier anschauen: Link.
Dass der damals ausgesprochen beliebte italienische Dichter d'Annunzio einem Elektrizitätswerk seinen Segen gibt, erweist sich tatsächlich als naheliegend. Bekannt für seine opulente Sprache, sein Talent als Selbstdarsteller und seine Ambitionen als Selfmade-Kriegsheld, begeisterte sich d’Annunzio zu Beginn des 20. Jahrhunderts für das Autofahren und das Fliegen und glaubte an den technischen Fortschritt im Allgemeinen. Vor allem der Geschwindigkeitsrausch faszinierte ihn, der den Automobilisten bzw. den Piloten in ganz neue Bewusstseinszustände transportieren sollte (Link). In Romanen wie „Forse che sì, forse che no“ (1910) verwendete d’Annunzio Autos und Flugzeuge als Symbole für die Moderne schlechthin und hatte damit einen großen Einfluss auf die italienischen Futuristen.
Giancarlo Maroni als d’Annunzios Leibarchitekt
Im Jahr 1921 übernahm d’Annunzio eine Villa in Gardone Riviera am Gardasee, die zuvor dem Kunsthistoriker Henry Thode gehört hatte, der allerdings im Ersten Weltkrieg vom italienischen Staat enteignet wurde. Der Architekt Giancarlo Maroni (1893 in Arco-1952 in Riva del Garda) erhielt von d’Annunzio den Auftrag, die Villa mitsamt der umliegenden Parkanlagen umzugestalten, unter Einbeziehung von Thodes ebenfalls beschlagnahmter Kunstsammlung. Während Thode vor Kummer starb, bauten der Dichter und sein Architekt die mittlerweile in „Vittoriale degli Italiani“ umbenannte Villa in ein überladenes Paralleluniversum um, indem sie die Gebäude um ein Freilichttheater und ein Mausoleum erweiterten, einen großen Park anlegten und sogar ein Torpedoboot in die Gartengestaltung integrierten. Im Bereich des Wohnens zeigte sich d’Annunzio offensichtlich ähnlich gespalten zwischen dem technischen Fortschritt des 20. und dem überbordenden Prunk des 19. Jahrhunderts (Link), wie in seinem Schreibstil. Im Jahr 1925, als am Nordende des Gardasees nach den Plänen von Giancarlo Maroni die Centrale Idroelletrica von Riva entstand, wurde der Vittoriale in Gardone bereits zum Nationaldenkmal erklärt. Insgesamt bestritt Maroni bis ins Jahr 1938, als d’Annunzio starb, die Rolle des Leibarchitekten des Schriftstellers und blieb danach bis ins Jahr 1952 als Konservator und Verwalter des Vittoriale tätig. Finanziert wurde d’Annunzios begehbares Nationaldenkmal am Ende von Mussolini, obwohl der Schriftsteller sich tatsächlich nie offiziell zum Duce bekannt hatte, sondern eher als dessen Ideengeber gilt.
Zauberberg und -seeluft
Immer wieder bin ich davon fasziniert, wenn sich um Zweckbauten derart ausufernde Geschichten ranken, wie um das Elektrizitätswerk von Riva. Über das Städtchen am nördlichen Ende des Gardasees lassen sich natürlich noch viele weitere Geschichten erzählen und auch mit meiner Zauberberg-Assoziation lag ich nicht ganz falsch. Neben Rilke und Nietzsche besuchte zwar nicht Thomas, jedoch Heinrich Mann ein örtliches Sanatorium und ließ sich von der ungewöhnlichen Thermik des Gardasees heilen. Zur der Centrale Idroelettrica ist abschließend zu sagen, dass man, als man 1929 das Wasser des oberhalb des Elektrizitätswerk gelegenen Lago die Ledro absenkte und in die Fallrohre lenkte, am Grund des Sees die Reste eines Dorfes aus Pfahlbauten aus der Bronzezeit fand. Die Architekturgeschichte Rivas bzw. des Gardasees ist zumindest hier noch lange nicht zu Ende erzählt.
Das Elektrizitätswerk und der Segelclub mit seinem Sprungturm liegen auf einer direkten Sichtachse |
La Spiaggia degli Olivi, der von Giancarlo Maroni entworfene Segelclub in Riva aus dem Jahr 1934 (Link), zu dem auch der Sprungturm gehört |