Einmal
eine gesamte Stadt anzulegen mag der Traum manch eines Architekten sein. Sowohl
für LeCorbusier als auch für Oscar Niemeyer ging der Traum mit den Städten
Chandigarh und Brasilia in Erfüllung. Für beide Architekten war jedoch die
Ausgangssituation eine andere als bei Auguste Perret im Fall von LeHavre.
Als
LeCorbusier um 1950 mit dem Auftrag betraut wurde, nach der Teilung Indiens der
Region Punjab eine Hauptstadt zu bauen, stand ihm dafür eine riesige Fläche zur
Verfügung, auf der er all seine Überlegungen zu den Themen „Zoning“ und
„Autogerechte Stadt“ umsetzen konnte. Eine Stadt hatte es an dieser Stelle nie
gegeben und Chandigarh wurde nach einem in der Nähe gelegenen Dorf benannt.
Auch
als sich Oscar Niemeyer in den Fünfzigerjahren auf holprigen Staßen auf den Weg
ins Landesinnere von Brasilien machte, um auf das staubige Hochplateau seine
futuristische neue Hauptstadt zu stellen, befand sich dort bis dahin ebenfalls
nichts anderes als Landschaft. Zudem konzentrierten sich sowohl Niemeyer als
auch LeCorbusier vor allem auf den jeweiligen Verwaltungsbezirk ihrer Städte.
Als
Auguste Perret jedoch im Jahr 1944 die Leitung des Wiederaufbaus von Le Havre
übernahm, erwartete ihn dort eine ganz andere Situation. Über den gesamten
Zweiten Weltkrieg hinweg war die Hafenstadt an der Mündung der Seine im Norden
Frankreichs immer wieder bombardiert und damit so gut wie komplett zerstört
worden. Perret war mit einem riesigen Trümmerfeld konfrontiert und stand vor
der Aufgabe, eine gesamte Stadt zu entwerfen, die mehr als nur einen
Verwaltungsbezirk umfassen sollte. Perret war zu diesem Zeitpunkt bereits
siebzig Jahre alt und verfügte über eine lebenslange Erfahrung mit dem
Werkstoff Eisenbeton. Zudem stand ihm ein sechzigköpfiges Team aus Architekten
zur Seite.
Reißbrettstädte werden generell mit einer großen Skepsis von ihren Bewohnern aufgenommen, selbst wenn deren Heimatstadt nicht gerade erst zerbombt worden ist. Perret aber erdachte sich ein System, das einerseits einen wirtschaftlichen Umgang mit den Materialien und andererseits für Harmonie und Schönheit im Stadtbild sorgte: eine Verbindung aus Rasterplan und Modulbau. Perrets Ziel war es, durch die aufeinander abgestimmten Elemente und die gleich bleibenden Materialien ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Es gelang ihm, eine Stadt zu entwerfen, die durch die Variation der sich wiederholenden Formen zugleich wohnlich und individuell erscheint.
Die
Idee des Rasterplans, der sich sowohl auf den Grundriss der Stadt als auch auf
die Bauelemente der Gebäude bezog, lag nicht einfach nur in der notwendigen
Wirtschaftlichkeit und der gebotenen Zeitökonomie begründet. Tatsächlich war Le
Havre schon einmal künstlich angelegt worden, und zwar war erst im 16.
Jahrhundert beschlossen worden, an der Seine-Mündung einen Hafen und eine
dazugehörige Stadt zu bauen, um den Handel mit dem gerade erst entdeckten
Amerika zu ermöglichen. Dabei beauftragte François I. den Italienischen
Architekten Bellarmato, das Viertel St. Francois auf der Basis eines
Renaissance-Rasterplans anzulegen. Auf diesen Plan bezog sich Perret und
verband so die Geschichte der Stadt mit der Gegenwart.
Der von Perret geplante Wiederaufbau Le Havres dauerte bis 1964 an und gipfelte in der Einweihung der Église St. Joseph. Der ungewöhnliche Eindruck, den das Stadtbild mit seinen regelmäßigen, aufeinander abgestimmten Formen bei den Besuchern Le Havres hinterlässt, findet ihren Höhepunkt in Perrets Entwurf einer leuchtturmhaften Kirche. Außen mit Waschbetonplatten verkleidet, erschließt sich ihre eigentliche Dimension erst im Inneren, wo das Licht durch millionen von farbigen Glaselementen auf eine gigantisch anmutende Betonkonstruktion fällt. Nachts wird im Innenraum von St. Joseph die Beleuchtung aufgedreht, sodass das Licht der Kirche tatsächlich weit hinaus vom Meer aus zu sehen ist.
Der Rathausturm. Von Perret stammt davon abgesehen auch das erste Hochhaus Frankreichs, das sich mit seinen 27 Stockwerken in Amiens befindet. |
Der gesamte, absolut unwirklich erscheinende Look der Hafenstadt, der vom ständig zwischen bedrohlichem Grau und leuchtendem Blau des Himmels intensiviert wird, wird schließlich vervollständigt durch das Kulturzentrum eines anderen visionären Stadtplaners: Oscar Niemeyer.
Oscar Niemeyers Kulturzentrum "Le Volcan" am Bassin de Commerce, dahinter ragt der Turm von St. Joseph auf. |
Fortsetzung folgt.