Die
großen Hochhaussiedlungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg überall in
Europa an den Stadträndern entstanden, wurden von Anfang an scharf kritisiert.
Die junge Filmemacherin Helga Reidemeister machte sich ab den späten 60erjahren
ein ganz eigenes Bild vom Leben an der Peripherie, stand über Jahre hinweg in
engem Kontakt zu den Bewohnern des Märkischen Viertels und drehte schließlich
mehrere Dokumentarfilme über die Großwohnsiedlung im Nordwesten Berlins. Die
Fotos, die Helga Reidemeister in diesem Zusammenhang aufnahm, sowie auch einige
ihrer Filme aus dieser Zeit, sind noch bis zum 18. Oktober in vor Ort im
Märkischen Viertel zu sehen, in der Viertelbox (Link).
Die Großwohnsiedlung am Stadtrand
Das
Märkische Viertel, das in den 60er- und 70erjahren im Nord-Westen Berlins nach
Plänen von Christian Müller und Georg Heinrichs angelegt wurde (Link), musste
von Anfang an mit seinem Image kämpfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in
Berlin ein großer Mangel an Wohnraum und sowohl in der Innenstadt als auch in
dem ursprünglich sumpfigen Gebiet bei Reinickendorf, wo die neue
Hochhaussiedlung entstehen sollte, lebte man in Baracken und Notunterkünften.
Um der Wohnungsnot Herr zu werden, wurden schließlich sogar Gebäude abgerissen,
die die Bombardements und Kriegswirren überstanden hatten, zugunsten von
riesigen, neu gebauten Wohnanlagen, wie beispielsweise das Kottbusser Tor in
Kreuzberg. Diese Abrisse ganzer Areale in Verbindung mit der Umsiedlung von
Leuten aus ihrem gewohnten Umfeld in zunächst gleichförmig und steril wirkende
Wohnblocks, die sich im schlimmsten Fall weit außerhalb der Stadt befanden,
sorgten damals für Kritik und Protest. Zusätzlich zu der Entfernung der neuen
Wohngebiete wie dem Märkischen Viertel, Marzahn oder der Gropiusstadt zu den
lebendigen, gewachsenen Zentren Berlins, kam die anfängliche Kargheit, die die
neuen Gebäude umgab. Die geplanten Grünflächen mussten schließlich erst noch zu
einem harmonischen Gesamtbild zusammenwachsen und das Bild von Kindern, die auf
kargem Beton spielten, prägte sich im kollektiven Gedächtnis ein. Bis heute
spricht man Satelliten- und Trabantenstädten ihre Wohnlichkeit ab und
kritisiert die mangelnde Lebensqualität in den Hochhaussiedlungen an den Rändern
großer Städte.
Von wegen Schicksal - Über das echte Leben im Märkischen Viertel
Helga
Reidemeister hatte gerade ihr Malereistudium an der Hochschule der Künste
Berlin abgeschlossen, als sie im Jahr 1968 begann, im Märkischen Viertel als
Sozialarbeiterin tätig zu werden. Die Erfahrungen, die sie dort machte,
regten sie schließlich dazu an, diverse Dokumentarfilme zu drehen, in denen sie
sich intensiv mit den Bewohnern ihres Viertels auseinandersetzte.
„Der gekaufte Traum“ (1977) ist einer
dieser Filme. In einem anderen, in „Von wegen Schicksal“, geht es um eine
Mutter, die ihre Kinder alleine im Märkischen Viertel aufzieht und von ihrer
desillusionierten Sicht auf das Leben erzählt. Der Film wurde schließlich mit
dem Deutschen Filmpreis in Gold ausgezeichnet. Helga Reidemeister studierte
zusätzlich zu ihrem Studium der Malerei an der Deutschen Film- und
Fernsehakademie Berlin und unterrichtet heute, nach zahllosen weiteren
Dokumentarfilmen, an der Filmakademie Baden-Württemberg.
Mode
im Märkischen Viertel
Als ich mich in Helga Reidemeisters Ausstellung
in der Viertelbox gerade in einen Ausschnitt aus „Von wegen Schicksal“ vertieft
hatte, bemerkte ich, dass hinter mir, in der Mitte des Ausstellungsraums, etwas ganz anderes vor sich ging. Während ich zusah, wie die unglückliche,
wütende, kämpferische Frau sich im Film in ihrem Hochhaus-Wohnzimmer gerade
eine Schallplatte auflegte, um zur „Moldau“ ein wenig zu malen und sich dadurch
aufzuheitern, hatte sich in der Viertelbox die Nähgruppe des Märkischen
Viertels getroffen, Nähmaschinen aufgebaut, Stoffe ausgebreitet und befand sich
nun schon mitten im Gespräch.
Hier brauch niemand einsam zu sein, sagte eine der Damen zu mir und präsentierte ihren Freundinnen zunächst ein schwarz-weißes Ensemble mit Cape, um ihnen dann ein orange-braun gemustertes Kleid vorzuführen, das perfekt zu ihren Haaren passte und noch auf seine Vollendung wartete. Der Stoff sei aus einem der Haushalte, der hier im Viertel aufgelöst worden war, wie auch die Nähmaschinen und Kurzwaren, mit denen die Damen arbeiteten. Sie selbst wohne hier seit ’71, fügte sie hinzu, und ihr gefalle es hier richtig gut. Vor allem, meinte darauf ihre Kollegin, seit es hier so schön bunt sei. Damit bezog sie sich auf die mit der energetischen Sanierung einhergehenden neuen Anstrich der Gebäude. Tatsächlich hatte ich bereits auf dem Hinweg bemerkt, dass das Gebäude von Chen Kuen Lee (Link), einem Mitarbeiter Hans Scharouns, mittlerweile hinter Baugerüsten verschwunden war und seiner Verpackung in Dämmplatten harrte. Im April des Jahres hatte ich es noch im mehr oder weniger ursprünglichen Zustand fotografiert hatte.
Ganz im Sinne von Helga Reidemeisters
Dokumentarfilmen hat mir meine sehr regenreiche Radtour ins Märkische Viertel
wieder einmal gezeigt, dass man Architektur nie nur als rein abstrakte Form
betrachten darf, sondern immer auch das Leben betrachten muss, das in den
Gebäuden stattfindet.
Die Ausstellung in der Viertelbox auf dem Wilmersruher Damm im Märkischen Viertel, Berlin, geht noch bis zum 18. Oktober.