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Freitag, 2. Dezember 2016

Alice Musiol: Country. Eine Ausstellung im Museum Abtei Liesborn

Mein Text "Terra contrata" erscheint im Magazin zur Ausstellung

Alice Musiol: Ausstellungsansicht "Country"



























"Country" lautet der Titel der Ausstellung, die die kölner Künstlerin Alice Musiol (Link) für die Räume der Abtei Liesborn bei Lippstadt konzipiert hat und die am vergangenen Sonntag eröffnet wurde. Um das Projekt "Country" wortwörtlich über die Mauern der Abtei hinaus ins weite Land hinein weiterzuführen, hat sie diverse Künstler nach einem Bild- bzw. Textbeitrag gefragt und zu Ihrer Ausstellung ein Magazin veröffentlicht. Ich freue mich, dort mit meinem Text "Terra contrata" vertreten zu sein, zusammen mit Arbeiten von Chris Dreier, Bert Didillon, Pablo de Lillo, Julia Keppeler und anderen. Das Magazin liegt in der Ausstellung aus, die noch bis zum 05.02.2017 zu sehen ist, sowie hier: Link. Weitere Informationen dazu gibt es auf der Seite des Museums: Link. Zeitgleich zu Alice Musiols Ausstellung wurde im Museum Abtei Liesborn eine Ausstellung mit Werken des Innenarchitekten und Designers Martin von Wnorowski eröffnet, der an diesem Tag einhundert Jahre alt geworden wäre (Link).


Terra contrata
Das Wort „country“, das sowohl „Land“ bedeutet als auch häufig mit „Landschaft“ in Verbindung gebracht wird, fand seinen Weg in die englische Sprache ganz bildhaft im Rahmen einer Landnahme. Im Jahr 1066 machte sich der normannische Herzog Williame II. zusammen mit seinen Kriegern von Nordfrankreich aus auf den Weg über den Ärmelkanal, um das gesamte englische Königshaus und den Klerus zu beseitigen und durch eigene Landsleute zu ersetzen. Auf diese Weise fand die Sprache der Eroberer ihren Eingang in das Englische, vor allem aber in den Bereichen des Höfischen, der Verwaltung und des Rechts. Herzog Williame sprach mit dem Normannischen eine Varietät des Altfranzösischen, einer romanischen Sprache, die sich in den folgenden Jahrhunderten mit dem Angelsächsischen vermischen und fortan als Anglonormannisch bezeichnet werden sollte. Das altfranzösische „contree“, das Williame verwendete und das dem Wort „country“ zugrunde liegt, leitet sich vom vulgärlateinischen „(terra) contrata“ ab. „Contrata“, so das „Concise Oxford Dictionary of English Etymology“, wurde v.a. in Verbindung mit dem Wort „terra“ verwendet, also „terra contrata“, „das Land auf der gegenüberliegenden Seite“ bzw. „das Land, das sich vor jemandem ausbreitet“. 


Der Text "Terra contrata" von Julia Zinnbauer ist im Magazin zur Ausstellung "Country" von Alice Musiol erschienen.
"Country" - das Magazin zur gleichnamigen Ausstellung, aufgeschlagen eine Fotografie von Chris Dreier und mein Text "Terra contrata"





























Man kann sich lebhaft vorstellen, wie Herzog Williame an der nordfranzösischen Küste stand, im zwischen grellsonnig und düstergrau wechselnden Licht der Normandie, auf das Meer hinausschaute und minutiös die Eroberung des Landes auf der anderen Seite plante. Mit dem altfranzösischen Wort „contree“ ist in diesem Fall also ganz konkret England gemeint, das Land, das sich vor Williame ausbreitete, als er an einem Tag im September 1066 vom nordfranzösischen Dives sur Mer mit insgesamt dreihundert Booten und 7000 Soldaten ins südenglische Pevensy übersetzte. Es folgte die Battle of Hastings und bereits an Weihnachten 1066 ließ sich Williame in London zum König krönen. Die gesamte Geschichte von William the Conquerer, wie er seitdem genannt wird, erzählt der Teppich von Bayeux in zahllosen gestickten Bildern.

Das Land, in das man sich sehnt, mag genauso identitätsstiftend sein wie das Land, aus dem man stammt. Insofern ist es interessant, dass mit „country“ nicht unbedingt das eigene, sondern auch das andere, fremde, gegenüberliegende Land gemeint ist, das es noch zu erkunden, im schlimmsten Fall zu erobern gilt.

Ich selbst bin in einer Ebene aufgewachsen, zwischen zwei Horizonten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Auf beiden Seiten lag mir eine ganz besondere Landschaft gegenüber. Im Westen der Pfälzer Wald in all seiner tiefgrünen Schönheit, mit seinen Burgen und dramatischen, roten Sandsteinfelsen, davor hellgrüne Weinberge so weit das Auge reicht. Im Osten dagegen die BASF, die riesige Chemiefabrik, für die im letzten Jahrhundert ein gesamtes Ballungsgebiet aus Wohnorten, Autobahnabfahrten und Gewerbeflächen angelegt wurde.

Und ich saß dazwischen, links die Romantik, rechts die Moderne, auf jeder Seite eine terra contrata und ich im ereignislosen Zwischenraum.

Man kann sagen, dass wir in meiner Heimatstadt von beidem etwas hatten – von der schönen Landschaft genauso wie vom städtischen Flair einer Industriemetropole. Oder man sieht es umgekehrt: wir hatten von beidem nichts. Das ist Auslegungssache. 48 000 Einwohner können ja nicht irren und ich habe diverse ehemalige Schulkameradinnen, die begeistert dort wohnen geblieben sind. Das typische braun-weiße Schild, das überall in Deutschland an den Autobahnen steht und auf Sehenswürdigkeiten der Region hinweist, trägt bei uns die Aufschrift „Gemüsegarten Deutschlands“. In meiner Heimatstadt wird allerdings auch die KSB-Pumpe, der Kronkorken und der Scout-Schulranzen hergestellt und bis vor einigen Jahren produzierte man dort sogar den legendären Pegulan-Fußboden. Diese Mischung aus Gemüsegarten und Industriegebiet war mir als Jugendlicher einfach zu viel Realismus und ich bin ins innere Exil gegangen. Ich träumte mich nach England und nach Italien. Und das, obwohl die Pfalz doch die Toskana Deutschlands ist! Auf den ersten Blick vielleicht nicht gerade die Vorderpfalz.


In der Mitte des 19. Jahrhunderts ließ sich König Ludwig I. von Bayern im südpfälzischen Edenkoben als Sommersitz ein klassizistisches Schloss bauen, die Villa Ludwigshöhe. Erst kurz zuvor hatte er in seiner Begeisterung für die Antike, für Italien und die Kunst im allgemeinen in München die Feldherrnhalle nach dem Vorbild der Loggia die Lanzi in Florenz in Auftrag gegeben. Zeitgleich entstand in der Gegend von Regensburg auf seinen Wunsch hin die Walhalla, in Anlehnung an den griechischen Parthenon. Die Pfalz gehörte damals zu Bayern und so lag es für Ludwig nahe, sein geistiges Italien mit den perfekten Bedingungen vor Ort zu verbinden. Mit geschultem Blick fand er an einem Hang des Pfälzer Waldes den idealen Ort für seine Ferienvilla, zu deren Entwurf schließlich ein Atrium, pompejanische Wandmalereien und ein Mosaikfußboden nach römischem Vorbild gehören sollten.

Man kann sich lebhaft vorstellen, wie Ludwig von seiner mit dorischen Säulen geschmückten Veranda aus auf die Landschaft der Rheinebene hinausschaute, die sich vor ihm in tausenden von Farbschattierungen bis in die Ferne ausbreitete und man den Horizont schon nicht mehr von der Weite des Himmels unterscheiden konnte. Anders als Williame, der Jahrhunderte zuvor England mit Gewalt erobert hatte, machte sich Ludwig nun die Pfalz zueigen: er brachte den Klassizismus in die Region. Heute beherrbergt die Villa Ludwigshöhe weit über hundert Werke des Impressionisten Max Slevogt, der wie niemand sonst das Licht, die Farben und die Atmosphäre der Pfalz einfangen konnte, sowie den unglaublichen, phantastischen Himmel.

Ich selbst bin nach meiner Jugend in der Vorderpfalz schließlich nach Norden gezogen, den Rhein hinauf nach Düsseldorf. Dort, in einem Ballungsgebiet, das noch viel größer ist als der Rhein-Neckar-Raum, gibt es alles, was ich zu Hause vermisst habe: wirklich große Großstädte, alle Arten von Kunst, Glamour, eine unglaublich vielseitige Landschaft, das Ruhrgebiet mit seinen backsteinernen Fabrikhallen, mit Häfen und Autobahnbrücken, es gibt einsame Seen und waldige Berge, die A40 und die A46 und auch der Rhein ist da, als alter Vertrauter. Alles findet gleichzeitig statt und alles ist etwas größer und spektakulärer als in meiner Heimat. Nur eines gibt es nicht: das unglaublich schöne, warme intensive Licht der Pfalz, das jeden noch so banalen Parkplatz, jeden Garagenhof mit purem Gold und verschwenderischer Hitze überzieht und erst recht das Schöne noch schöner macht. Und so wird die Pfalz, auch die Vorderpfalz, doch wieder zu dem, was sie immer war: ein Sehnsuchtsort - viel mehr die romanische „terra contrata“ als das germanische „Land“, das schlicht Boden und Grund bedeutet bzw. ein Gebiet zwischen politischen Grenzen. Und vielleicht verdanke ich meiner Zeit in der Vorderpfalz ja auch meine Phantasie, mit deren Hilfe ich überall dort hinreisen kann, wohin ich will.
 


Museum Abtei Liesborn









Entwürfe von Martin von Wnorowski