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Dienstag, 11. November 2014

Roger Hummel, André Blanc: L'École Nationale de la Marine Marchande du Havre, 1961


Zu einer Hafenstadt, und als nichts anderes wurde LeHavre im 16. Jahrhundert gegründet und angelegt, gehört neben einem Leuchtturm und diversen Hafenbecken auch eine Marineschule. Die École Royale d'Hydrographie du Havre wurde bereits im Jahr 1666 auf königliche Anweisung hin gegründet und ist eine der ältesten Marineschulen Frankreichs. Während des Zweiten Weltkriegs und den Bombardements, die die ganze Stadt zerstörten, wurde die Schule geschlossen und im Jahr 1949 in einem Provisorium wiedereröffnet. Im Rahmen des Wiederaufbaus der Stadt sollte auch die Marineschule ein neues Gebäudeensemble erhalten, allerdings hoch oben auf einem Felsen im Vorort Sainte Adresse, mit einem weiten Blick über Le Havre hinaus auf das Meer.



Eine gewisse Erfahrung mit Schiffsformen hatte Roger Hummel (1900 - 1983) durchaus, als er Ende der Fünfzigerjahre damit beauftragt wurde, zusammen mit seinem Kollegen André Blanc ein neues Schulgebäude für die angehenden Offiziere der Handelsmarine zu entwerfen. Das lag nicht nur daran, dass er seit 1945 der leitende Architekt der Französischen Handelsmarine war. Bereits in den Dreißigerjahren hatte er diverse Schulgebäude entworfen, und zwar ganz im Sinne der Licht, Luft und Sonne Bewegung, mit großen Terrassen und breiten Fensterbändern. Der Ozeandampfer galt damals nicht nur bei LeCorbusier als absolutes Ideal an Funktionalität und Modernität. LeCorbusier war begeistert von der Reduktion auf das technisch Notwendige an Flugzeugen, Schiffen und Silos, vom Fehlen jeglicher Dekoration und den harmonischen Proportionen rein funktionaler Bauten. Art-Déco-Architekten wie Roger Hummel imitierten mit ihren Gebäuden jedoch auch die äußere Form von Ozeandampfern mitsamt ihren Rundungen und Bullaugen (z.B. das Aquatic Bathhouse Building in San Francisco von Sargent Claude Johnson aus dem Jahr 1939 (Link)). Von Roger Hummel stammen beispielsweise La Groupe Scolaire Condorcet in Paris (1930 - 34, Link) und das Gebäude des Collège Jules Ferry in Toulouse, das 1935 eröffnet wurde  (Link).

Im Fall der Marineschule von LeHavre überschneiden sich die Bereiche des Dekorativen und des Funktionalen. Hoch oben auf einem Felsen über dem Meer haben Hummel und Blanc ein steinernes Schiff gebaut. Auf dem Dach des Schulgebäudes befindet sich eine „Passarelle“, also eine Kommandozentrale in einem vollverglasten Saal, wo die Brückenoffiziere in spe den Umgang mit der mit all den Navigationsgeräten lernen, die dort eingebaut sind, und dabei schauen sie weit hinaus auf den Ärmelkanal.

Der zweite Direktor der Schule schreibt 1963, zwei Jahre nach deren Eröffnung, voller Euphorie, dass es in der Kommandozentrale Geräte gibt, die so zukunftsweisend sind, dass man sie noch in keinem einzigen echten Schiff finden kann. Großen Wert legt er dabei auf die immer wichtiger werdende Elektronik und berichtet sogar von einem modernen Radar-Simulator. In den Werkstätten dagegen, die sich neben den Internatsgebäuden befinden, lernen die Schüler den Umgang mit Dieselmotoren, Dynamos und Turbinen und mit dem riesigen Stromgenerator, der den gesamten Gebäudekomplex versorgt. Auf einer eigenen Internetseite, die der Geschichte der École Marine Marchande gewidmet ist, kann man sich sehr aufregendes Bildmaterial aus den frühen Jahren des Schulbetriebs anschauen: Link.


In Zukunft werden sich jedoch nur noch Retrofuturisten für Hummels und Blancs Schiff begeistern können. Zurzeit finden die letzten Kurse in den Räumlichkeiten in Sainte Adresse statt. Im Januar 2014 wurde der Grundstein für ein neues Schulgebäude gelegt, denn die Marineschule zieht im Oktober 2015 wieder nach LeHavre zurück, direkt in den Hafen und in die Nähe der Universität. Tatsächlich orientiert sich die Architektur auch heute wieder an der Form eines Schiffs. Zumindest sollen die älteren Gebäude nicht abgerissen werden und man denkt über  Wohnungen nach und auch über ein Hotel. Und eins darf man dabei nicht vergessen: LeHavre ist nach wie vor die letzte Etappe auf französischem Boden, bevor man sich auf den Weg nach Amerika macht.